Montag, 30. Januar 2017

Geburt (12/12)

Ich brauche den Schutz der Anonymität. Ist das wahr? 
Meine beiden Großmütter hatten einen Beruf erlernt und konnten sich selbst finanzieren. +++ Ich habe die Ahnung, dass Vorfahren der weiblichen Linie und eine Großtante der väterlichen Linie körperliche Gewalt erfahren haben, über die nicht offen gesprochen wurde. Die Frauen leben nicht mehr. +++ Meine Mutter hat als Kind einen verheerenden Bombenangriff überlebt.

Meine beiden Großväter befürworteten den Nationalsozialismus bis in die 1940er Jahre hinein. +++ In der Familie wurde nur wenig über die Eltern während des Nationalsozialismus gesprochen, was mich neugierig werden ließ. Ich habe mich in den letzten Jahren intensiv mit unserer Familiengeschichte auseinandergesetzt. +++ Mein Vater hat als Kind Flucht und Vertreibung aus der Heimat überlebt.

In der Schule war die Nazizeit sehr präsent. Uns wurden Filme über den Holocaust gezeigt, wir lasen Bücher wie „der gelbe Vogel“, „die Welle“ und „das Tagebuch der Anne Frank“. Bilder und Texte berührten mich. Oft liefen die Tränen. Beim Sprachaustausch schämte ich mich manchmal, aus Deutschland zu kommen. Der Begriff „Vergangenheitsbewältigung“ ist eines der deutschen Worte, die neben „Kindergarten“ und „Energiewende“ auch international bekannt sind.

Ich selbst habe mir damals vorgenommen, mir alles anzuschauen und nicht wegzusehen. Was ich dann weltweit zu sehen bekam, war in der Tat sehr schwerverdauliche Kost.

In Kriegszeiten gibt es Menschen, die andere Menschen vergewaltigen und danach töten, wie beim Massaker von Mỹ Lai (Son My) während des Vietnamkrieges.
https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_M%E1%BB%B9_Lai

In Friedenszeiten gibt es Menschen wie Joachim Kroll. Er war „der Menschenfresser von Duisburg“. Joachim Kroll wurde 1933 als sechstes von neun Kindern eines Bergmanns in Oberschlesien geboren. Mit dem Beginn der 1950er-Jahre kam Kroll nach Duisburg. 1976 wurde er gefasst, nachdem er ein vierjähriges Mädchen vom Spielplatz entführt, vergewaltigt und getötet hatte. 1979 begann der Prozess. 1982 wurde er wegen Mordes in acht Fällen und eines Mordversuchs verurteilt. Drei bis sechs weitere Morde tauchten nicht in der Anklageschrift auf. Sie konnten ihm nicht nachgewiesen werden. Kurz nach dem Tod seiner Mutter im Jahr 1955 begann Joachim Kroll seine Mordserie. Diese Mordserie führte zu zahlreichen falschen Verdächtigungen von Männern, von denen sich einige deshalb umbrachten.
http://rainbop.blogspot.de/2015/10/die-wilde-rose.html

Joachim Kroll und seine Taten waren in den 1970er und 1980er Jahren in den Medien sehr präsent. Auch im Radio. Meine Mutter ließ das Radio oft laufen. So fand die Geschichte mit all ihren Details Zugang in die Gedanken- und Traumwelt eines kleinen Mädchens im Ruhrgebiet. Zum Zeitpunkt des Urteils war ich acht Jahre alt. Somit hat der Prozess meine gesamte Kindheit ab dem zarten Alter von zwei Jahren begleitet. Ein Tatort war auch in meiner Heimatstadt.

Sława Przybylska - Gdzie są kwiaty z tamtych lat? (1972)
https://www.youtube.com/watch?v=r9P-iG_g3vU&list=PLN-ZVQ9Hc8I6Sxm2QM_7oR5d8MFuazOe1

Wo sind die Blumen dieser Jahre?
Helle Blumen ...
Wo sind die Blumen dieser Jahre?
Die Zeit hat die Spur verwischt ...
Wo sind die Blumen dieser Jahre?
Jedes der Mädchen nahm eine Blume ...
Wer weiß, ob es so war ...
Wer weiß, ob es so war ...

Auf den Namen „Joachim Kroll“ bin ich zufällig 2012 gestoßen, weil ich nach dem Schauspieler Joachim Król gesucht und den Namen falsch eingegeben hatte. Król spielte in dem Film „Ausgerechnet Sibirien“, der 2012 neu in die Kinos kam. In dem Film fragt die schorische Sängerin Sajana* den deutschen Geschäftsreisenden Matthias Bleuel (Joachim Król), warum er keine Tomaten esse. Darauf antwortet er, dass er eine Allergie gegen Tomaten hätte. Wenn er Tomaten essen würde, könne er einen körperlichen Schock bekommen, an dem er sterben könne. Sajana rückt etwas näher: „Sterben ist fallen. Von einer Welt in andere.“ Sie steht auf. „Mach nicht so viel Angst vor Tomate. Und dann kommst zum Licht.“ Sie geht. In der nächsten Einstellung beißt Matthias in eine Tomate. Er sieht ein Licht im Haus von Sajana.
https://www.youtube.com/watch?v=2GjRc6pFrL0

Als der Vater von Joachim Kroll nicht aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückkam, zog die Mutter mit den neun Kindern 1947 ins Ruhrgebiet, wo sie Anfang 1955 starb.

Joachim Król wurde 1957 in Herne als Sohn eines Bergmanns mit polnischen Vorfahren geboren. Der Name Król wird polnisch [kru:l] ausgesprochen. Vielleicht haben Król und Kroll gemeinsame Vorfahren. Sie kommen scheinbar aus der gleichen Gegend.

Kto wie czy było tak... Wer weiß, ob es so war...

2013 plante ich mit einer Freundin eine Fahrradtour zu den Geburtsorten meiner männlichen Vorfahren in Schlesien. Mein Vater war seit der Flucht nicht mehr dort gewesen. Bei meiner Planung fuhr er virtuell mit: Mit Google Street View habe ich mit ihm Orte zusammen angeschaut, die für ihn in seiner Kindheit wichtig waren. Ein paar Orte haben die Freundin und ich dann real aufgesucht. Wir radelten von Krakau nach Breslau. Wie es der Zufall wollte, wurde an dem Tag, als wir in Görlitz ankamen, am Abend ein Film gezeigt, den ich schon seit längerem sehen wollte: „Aber das Leben geht weiter“ von Karin Kaper über Flucht und Vertreibung nach dem zweiten Weltkrieg. Eine Besonderheit des Films ist die, dass ausschließlich Frauen zu Wort kommen.
https://www.youtube.com/watch?v=H8Klu4ZhESM

2012 machte ich eine Fahrradtour zu den Geburtsorten meiner weiblichen Vorfahren. In den alten Kirchenbüchern einer kleinen Gemeinde in Baden-Württemberg erfuhr ich interessante Details über meine Urgroßmutter und deren Familie, die nicht überliefert worden waren.

2010 war ich mehrmals im Europäischen Institut für Angewandten Buddhismus in der Tradition von Thich Nhat Thanh. Es war eine Zeit mit vielen schönen Erlebnissen und Begegnungen. Ich bin in die Stille gekommen. Eine besondere Erfahrung war das Lied „Namo Avalokiteshvara“, das dem Bodhisattva des universellen Mitgefühls gewidmet ist.

Namo Avalokiteshvara EIAB 12-08-2014
https://www.youtube.com/watch?v=ntBfYFFlbV8&list=PLN-ZVQ9Hc8I6Sxm2QM_7oR5d8MFuazOe1

1992 sah ich mir alle Folgen der Zweiten Heimat im Fernsehen an. Sie ist der zweite Teil der Filmtrilogie von Edgar Reitz.
https://www.youtube.com/watch?v=ff11q5_mlE0

Viele Jahre bin ich bereits im Internet unterwegs. Ich habe mir viel angeschaut und viel geschrieben. Meistens war ich mit Pseudonym und ohne Foto unterwegs. Ich habe den Schutz der Anonymität gesucht. Die Gedanken, die meine Angst vor Sichtbarkeit auslösten, habe ich nach und nach identifizieren können. Insbesondere mit der Methode von Byron Katie ist es mir gelungen, vielen Gedanken nach und nach ihre Macht zu nehmen. Und so ist jetzt die Zeit gekommen, dass ich meine Frau stehen und Profil zeigen will. Ich will meine virtuelle Burka ablegen und Verantwortung übernehmen.

Mit anderen Menschen erarbeite ich gerade ein Konzept für eine Projektidee, die bald ans Tageslicht will. Ich wähle die Ruhe und die Stille, die nötig sind, um alles ausreifen zu lassen. Danke an alle, dass ihr meine virtuelle Burka bisher akzeptiert und mich gleichzeitig ernst nehmt. Mein besonderer Dank geht an die Gemeinschaft von Utopia! Ihr habt mir so viel beigebracht auf so vielen verschiedenen Ebenen. Oft saß ich mit Euch bis tief in die Nacht gedanklich ums Feuer. Lachend, streitend, singend und schweigend. Ihr seid einfach großartig! Danke auch an Claudia Langer, die ihre Frau gestanden hat und den Mut hatte, das Projekt utopia.de ins Leben zu rufen! Nicht zuletzt durch den Austausch auf dieser Plattform habe ich zu der Vision gefunden, die ich jetzt Schritt für Schritt zum Leben erwecken möchte. In einem der nächsten Beiträge will ich das Projekt vorstellen. Und dann wird auch mein Klarname öffentlich. So oder so.

Gestern war mein Geburtstag. Von meinen Eltern weiß ich, dass ich mit einer Saugglocke in die Welt gezogen wurde. Meine Mutter sagt, das das wegen des Kopfumfangs gemacht worden sei. Mein Vater sagt, dass der diensthabende Arzt die Geburten immer tagsüber eingeleitet habe, damit er nachts nicht in die Klinik muss. Der heutige Tag könnte also mein „natürlicher“ Geburtstag sein. Wer weiß, ob es so war...

Alegria
https://www.youtube.com/watch?v=kMrNsFwTXJQ&list=PLN-ZVQ9Hc8I6Sxm2QM_7oR5d8MFuazOe1

Die Bilder in dem Musikvideo sind Teil einer Kampagne zum 200-jährigen Jubiläum des Landes Mexiko. Das ist das Land, von dem sich Donald Trump mit einer Mauer abgrenzen will...
https://rainbop.blogspot.de/2016/03/mexico-stars-of-bicentennial.html

* In dem Film "Ausgerechnet Sibirien" leiht Natascha Nikeprelevic der Schauspielern beim Obertonsingen ihre Stimme. Ich habe Natascha Nikeprelevic mal bei einem Konzert erleben dürfen. Sehr beeindruckend!
https://www.youtube.com/watch?v=p1T3QArgcLk

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Alle Beiträge zu Silvester 2016/2017:
Zeitenwende (1/12)
Gesundheit (2/12)
Leben (3/12)
Humor (4/12)
Natur (5/12)
Grenzen (6/12)
Internet (7/12)
Musik (8/12)
Liebe (9/12)
Meine Mutter (10/12)
Mein Vater (11/12)
Geburt (12/12)

Bild: 2010-08 in der Toscana 

Kommentare (6)  

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    schrieb am 30.01.2017 um 12:09
    "Wir radelten von Krakau nach Breslau. Wie es der Zufall wollte, wurde an dem Tag, als wir in Görlitz ankamen"
    Eine ähnliche Tour haben mein Mann und ich geplant.
    Seine Mutter ist von dort geflohen.

    Auf die Idee, das per Radl zu machen, sind wir noch nicht gekommen.
    Vielleicht muß ich Dich dazu bei Gelegenheit mal interviewen...

    Und nachträglich alles Gute zum Geburtstag. ;-)
    Danke auch Dir. Auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind, sind Deine Beiträge eine große Bereicherung für mich.
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    schrieb am 30.01.2017 um 12:22
    Erneut danke für Deinen Kommentar. Und danke für die Glückwünsche!

    Hier gibt's Infos zur Radtour... https://www.utopia.de/gruppen/fahrradfahren-135/diskussion/erlebnisradweg-via-regia-von-krakow-krakau-bis-wroclaw-205809 :-)

    Noch mehr Infos zur Planung:
    http://rainbop.blogspot.de/2013/05/reise-nach-schlesien.html
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    schrieb am 30.01.2017 um 12:49
    Ach Gott....schäm....hatte ich ja sogar registriert und kommentiert.
    Manchmal wird meiner Festplatte offensichtlich das eine oder andere zu viel...
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    schrieb am 30.01.2017 um 12:56
    Alles zu seiner Zeit. :-) 
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    schrieb am 30.01.2017 um 17:13
    Herzlichen Glückwunsch nachträglich, liebe Lukita! 
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    schrieb am 17.05.2017 um 09:13
    Die Gewinnerin des Eurovision Song Contest 2016 ...
    http://www.eurovision.de/teilnehmer/Songtext-Jamala-1944,lyrics192.html

    We could build a future
    Where people are free
    to live and love.
    The happiest time.

    Where is your heart?
    Humanity rise.

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